Mein Europa - EDI Tirol - Prof. Pallaver
Univ.-Prof. Günther Pallaver

„Mein Europa“ – Univ.-Prof. Günther Pallaver

Europa ist eine Sehnsucht

Der gebürtige Südtiroler, Univ.-Prof. für Politikwissenschaft Günther Pallaver, lehrte bis 2020 an der Universität Innsbruck und ist seit jeher bestrebt, als kultureller Brückenbauer und im europäischen Geiste die Beziehungen der Länder Tirol, Südtirol und Trentino zu vertiefen.

Mein Europa schaut in die Zukunft, auch wenn es von der Vergangenheit geprägt ist. Das Europa der Union ist aus der negativen Erfahrung des 20. Jahrhunderts entstanden, ist die Antithese der europäischen Nationalismen, belastet mit den Erfahrungen von zwei Weltkriegen, geprägt von der millionenfachen industriellen Ermordung von Menschen, vom menschlichen Abgrund des Holocaust.

Die EU ist ein Neuanfang. Europäische Geschichte ist nicht mehr ein Vorbild, sondern ein Lehrstück, eine Mahnung, was vor allem vermieden werden soll: Nationalismus, religiöse Intoleranz, Revanche, Kriege und vieles andere mehr und eben auch Weltmachtdenken. Die Europäische Union ist kein Imperium, will und kann es nicht sein. Es knüpft nicht an Imperien wie an das Römische Reich, das Reich Karl des Großen oder Napoleons an. Die EU ist die Summe von gemeinsamen Interessen, basierend auf Grund- und Menschenrechten. Wenn schon eine Weltmacht, dann sollte Europa eine Weltmacht dieser fundamentalen Rechte sein, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellen.

Das ist meine größte Sehnsucht, die ich mit Europa verbinde. Denn Grund- und Menschenrechte, in die soziale Wirklichkeit umgesetzt, sprengen alle bislang erdachten Utopien. Das Grundrecht der Gleichheit etwa, radikal eingefordert, bleibt nicht bei der formalen Gleichheit stehen. Das betrifft beispielsweise die ökonomische gleich wie die Geschlechterdimension. Das Grundrecht der Freiheit etwa, konsequent zu Ende gedacht, hebt Herrschaft und damit Machtverhältnisse auf. Das betrifft die individuelle Freiheit genauso wie etwa internationale Beziehungen.

Grund- und Menschenrechte: Das ist die konkrete Utopie, die ich mit Europa verbinde. Auf dem gemeinsamen Weg des Alltags dorthin sind eine Menge von Unbilligkeiten und Schieflagen zu beseitigen. Bislang war das Europa der Union hauptsächlich das Ergebnis eines politischen Elitenprozesses „von oben“, Ausdruck rationalen Denkens und eines zweckorientierten Handelns. Mein Wunsch wäre, dass Herz und Seele dazukommen, jedenfalls bedeutend stärker werden. Denn die EU darf nicht nur eine rationale Konstruktion bleiben, sondern sollte ein mit Emotionen durchflutetes politisches System besonderer Art werden, Voraussetzung für die Herausbildung einer europäischen Identität. Mein Wunsch ist deshalb, Europa „nach unten“ auszuweiten. Dadurch kann auch das Demokratiedefizit, das der Union vorgeworfen wird, schrittweise behoben werden. Derzeit aber ist Europa noch auf der Suche nach seinem Demos.

Eine europäische Identität ist erst möglich, wenn sich Europa an den Prinzipien der Inklusion von Menschen, nicht der Exklusion von Menschen orientiert, und wenn alle am Gemeinwohl teilnehmen können. Mein Wunsch ist deshalb, dass sich auch der Wohlstand an den Grundsätzen der Menschenwürde orientiert, das Grundrecht der Gleichheit auch eine ökonomisch substantielle Ausgestaltung erfährt.

Meine Hoffnung ist, dass sich Europa nicht weiter auseinanderentwickelt und die in der Zwischenzeit vielfach eingeführten unterschiedlichen Geschwindigkeiten beseitigt werden. Vielmehr sollen sich die Mitgliedsstaaten wie in einem Schiffskonvoi fortbewegen. Die europäische Vertiefung bedeutet deshalb unter anderem, dass am Schengen-Raum alle Mitgliedsstaaten teilnehmen sollten, genauso wie an der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik oder bei der Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

Grenzen haben mein ganzes Leben begleitet, kulturelle, sprachliche, räumliche Grenzen, die ich seit jeher versucht habe zu überwinden. Auf den Zug- und Autofahrten von meinem Geburtsort Bozen über Innsbruck nach Vorarlberg zu den Großeltern waren die Grenzen spürbar, früher oft zitternde Wirklichkeit: Grenzkontrollen, Polizeihunde, Militär, Durchsuchung des Gepäcks. Die EU hat diese Grenzen beseitigt – und damit das Misstrauen anderen gegenüber. Von den vier Grundfreiheiten der Europäischen Union, Personenverkehr, Dienstleistungsverkehr, Warenverkehr und Kapitalverkehr, stehe ich dem freien Personenverkehr emotional am nächsten.

Die Vereinigten Staaten von Europa sind eine noch unvollendete Föderation. Europa bleibt meine Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, nach innen und nach außen, in einem Wort, nach der Verwirklichung der Menschenwürde.