Europa, wohin?
Da ich seit fast 40 Jahren politisch aktiv bin, verfolge ich die Entwicklung von Europa und der EU mit besonderem Interesse. Ich war 24 Jahre als Bürgermeister der Marktgemeinde Wolfurt, zeitgleich auch im Vorarlberger Gemeindeverband und im Österreichischen Gemeindebund aktiv. 2008 bis 2015 war ich im Ausschuss der Regionen der EU und im Kongress des Europarates tätig und bekam tiefen Einblick in die Integration Europas innerhalb und außerhalb der EU.
Seit der Gründung des Europarates (1949) und der Montanunion als Vorläufer der heutigen EU (1951) konnten beide großen europäischen Organisationen im Laufe der Zeit neue Mitgliedsstaaten aufnehmen, die sich zur Einhaltung der jeweiligen Verträge und Statuten verpflichteten. In diesen Verträgen sind die europäischen Werte wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Minderheitenschutz u.a. verankert, die vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg durchgesetzt werden. 2020 war ein (vorläufiger?) Höhepunkt erreicht: die EU hatte 28 Mitglieder, nach dem Austritt der Briten nun nur noch 27. Und der Europarat hatte 47 Mitgliedsstaaten, nach dem heurigen Ausschluss Russlands jetzt nur noch 46.
Während also Europa und die EU nach dem 2. Weltkrieg jahrzehntelang prosperierten und die Staaten, auch nach dem Fall des Eisernen Vorhanges, enger zusammenrückten, Grenzen abbauten und das große Ganze, das Gemeinsame im Blick hatten, scheint nun eine neue Zeit anzubrechen, die mir Sorge bereitet. Ein wieder erwachter Nationalismus, schon überwunden geglaubt, greift um sich. Der Brexit ist diesem Nationalismus geschuldet: „Wir lassen uns von Brüssel nichts mehr vorschreiben, wir Briten bestimmen selbst über uns.“ Aber auch innerhalb der EU gibt es besorgniserregende Entwicklungen: die polnische Regierung stellt nationales Recht über EU-Recht, was allen Verträgen widerspricht. Die Rechtsstaatlichkeit ist gefährdet, Nationalismus steht im Vordergrund. Eine ähnlich aggressive Vorgangsweise gegen die EU und deren Verträge legt Ungarn an den Tag. Eine deutliche Mehrheit der Wähler trägt diesen nationalistischen Kurs mit. In Frankreich haben wir bei jüngsten Wahlen gesehen, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Franzosen den Kurs der rechtsnationalen Partei unterstützt, die sowohl aus der EU als auch dem EURO raus will. Und in Italien sind bei den kommenden Wahlen die nationalistischen Parteien auf dem Sprung in die Regierung.
Wenn dieser wieder erstarkte Nationalismus oder nationale Egoismus Einzug hält, wird er Europa und die EU vor erhebliche Probleme stellen. Und das in einer Zeit, in der eine geopolitische Neuordnung der Erde erfolgt. China ist drauf und dran, die USA zu überholen und wieder zur Weltmacht Nr. 1 zu werden wie bereits vor 200 Jahren. Indien überholt heuer China und wird das bevölkerungsreichste Land der Erde. Das größte Wirtschaftswachstum wird im kommenden Jahrzehnt in Asien stattfinden. Und wo bleibt die EU? Die ist vielleicht mit sich selbst beschäftigt. Mit gegenseitigen Klagen und politischen Blockaden.
Unsere Evolution hat uns gelehrt, dass wir miteinander mehr schaffen als gegeneinander. Ob in der Familie, der Gemeinde, im Verein, im Unternehmen oder der EU. Deshalb ist mein größtes Anliegen bei meinen Vorträgen, die Menschen von den Vorteilen der Gemeinschaft zu überzeugen und vor Nationalismus und Egoismus zu warnen. Ich habe sechs wunderbare Enkelkinder, und die sollen in einem friedlichen und gemeinsamen Europa aufwachsen und älter werden dürfen.
Zum Abschluss meiner Betrachtung hier noch ein Hinweis auf eine höchst interessante und sehr positive Bewertung der EU: in ihrem Buch „The brussels effect: how the EU rules the world“ beschreibt Anu Bradford, eine namhafte US-Professorin, den Einfluss der EU weltweit. Zum Beispiel, dass Facebook und andere Konzerne für die USA die europäische Datenschutzgrundverordnung fordern, die übrigens von vielen Staaten weltweit bereits wortgleich übernommen wurde, weil es diese in 24 Sprachen gibt. Oder dass China und Indien gewisse Chemikalien aus allen Produkten entfernt haben, um eine CE-Zertifizierung zu erreichen. Oder dass afrikanische und südamerikanische Kaffeebauern ihre Produkte ohne in der EU verbotene Pflanzengifte anbauen. Und das generell, weil niemand mehr zweitklassige Ware will. Damit macht die EU unsere Welt täglich ein bisschen besser. Und das hoffentlich noch ganz lange.
Word-Rap:
Europa – klein, aber fein
Europäische Union – an einer entscheidenden Weggabelung
Ukraine-Krieg – Schwerer Fehler, dass Minsker Abkommen nicht heftiger unterstützt wurden
Brexit – schade
Grenzen – die allermeisten waren blutig
Zukunft Europas – hängt von uns ab
Österreich – im Herzen Europas
Nationalismus – so negativ wie Egoismus
Freiheit oder Sicherheit – merkt man nur, wenn’s fehlt
Solidarität – Grundwert
Digitalisierung – wohl unumgänglich
Klimawandel – Herausforderung global Nr.1
Kultur – prägt ein Volk
Junge Menschen – müssen mitgestalten
Buch oder Film – Buch „The Brussels effect“ How the EU rules the world.
Was mir imponiert – Mahatma Ghandi
Was ich nicht mag – Unehrlichkeit
Einen Kaffee würde ich gerne trinken mit – Barack Obama
Mein Lebensmotto – versuch es – vielleicht gelingt es